In der Berliner Zeitung ist ein bildungskritischer Artikel erschienen:
Open Source
Klage eines Berliner Pädagogen: Dieser Aspekt kommt an unseren Schulen regelmäßig zu kurz
Bei der Diskussion über die Frage, was im Rahmen des Schulunterrichts pädagogisch sinnvoll ist und was nicht, kommt eine Sache stets zu kurz: das Soziale Lernen.
Markus Vollack
04.11.2025
05.11.2025, 18:22 Uhr
Dies ist ein Open-Source-Beitrag. Der Berliner Verlag gibt allen Interessierten die Möglichkeit, Texte mit inhaltlicher Relevanz und professionellen Qualitätsstandards anzubieten.
Seit einigen Jahren wird die digitale Schule beschworen, gefordert und gefördert. Schulklassen sollen mit Laptops, Tablets, Smartphones und interaktiven Smartboards ausgestattet werden. Ferner sollen digitale Plattformen, Web-Kommunikationswege sowie Videoplattformen den Weg zur digitalen Schule (auch via Homeschooling) ebnen. Die Kritik lautet stets, dass es einen großen Mangel an der Umsetzung und Ausstattung geben würde. Ob und inwiefern digitale Lernmaterialien überhaupt pädagogisch sinnvoll sind oder ob sie nicht auch schädlich für die kindliche Entwicklung sein können, interessiert dagegen kaum.
Ein Aspekt kommt hierbei regelmäßig zu kurz und wird quasi nie thematisiert: das Soziale Lernen. Davon auszugehen, dass Kinder Objekt-Roboter seien, die man via digitaler Schul-Lernfabrik nur mit Daten füttern müsse, ignoriert alle pädagogischen, psychologischen, lerntheoretischen und wissenschaftlichen Erkenntnisse der letzten 30 Jahre. Denn Kinder lernen fast ausschließlich in der sozialen und primär analogen Interaktion mit ihren Mitmenschen.
Kinder brauchen Kinder, um sich altersgerecht zu entwickeln
Ich kann aus meinem Schulalltag berichten, dass es immer mehr Kinder gibt, die weniger kognitive als viel mehr sozial-emotionale Schwierigkeiten im Alltag haben. Hier hilft den Kindern auch kein Laptop oder ein Tablet weiter. Sie benötigen zwingend die Interaktion mit anderen Kindern und die empathische Begleitung von pädagogischem Fachpersonal.
Kinder, die beispielsweise häufig in Konflikte involviert sind, eine geringe Frustrationstoleranz haben, bei denen die Selbst- und Fremdwahrnehmung schwach ausgeprägt ist, die Schwierigkeiten haben, sozial anzuknüpfen oder Freunde zu finden, sowie wenig selbstständig-lösungsorientiert handeln können, brauchen unbedingt einen geschützten Freiraum, wo sie entsprechende Fähig- und Fertigkeiten mit anderen Kindern (er-)lernen können. Aber Kinder, die selbstbewusst und selbstwirksam sind, brauchen zwingend andere Kinder, um sich altersgerecht entwickeln zu können.
Werte und Normen wie Fairness, Rücksichtnahme, Verständnis, Empathie, Gerechtigkeit, gewaltfreie Kommunikation oder Gemeinschaftsgefühl lernen Kinder nicht durch eine Schulcloud oder eine Zoom-Videokonferenz. Sie entdecken ihre körperlichen und emotionalen Grenzen und Fähigkeiten nur in der analogen Auseinandersetzung mit Gleichaltrigen.
Wie bitte sollen Kinder und Jugendliche Konfliktlösungsstrategien mit digitalen Technologien erlernen? Wie sollen sie sich hier selbst sowie andere Kinder spüren? Mit all ihren Gerüchen, Berührungen, der Körpersprache, Gestik, Mimik und Stimme, die für die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen so unglaublich wichtig sind? Wie lernen Kinder, ihre Ängste zu überwinden und selbstbewusster zu werden, wenn sie vor einem Smartphone oder einem Smartboard sitzen?
Was sich Schulkinder wirklich wünschen
Digitalpakt. Bildungsstandort Deutschland. Digitaler Wandel. Homeschooling. Medienkompetenz. Bei all dem geht es – wie so oft – nicht um die Bedürfnisse und Interessen der Kinder. Denn sie werden nicht gefragt. Stattdessen definieren die Kultusministerien die gewünschten Bildungsziele und die Digital-Firmen verdienen Millionen an der digitalen Aufrüstung der Schulen.
Fragt man nämlich die Kinder (oder auch die Eltern), wünschen die sich meist saubere Toiletten, einen schöneren Garten oder einen besser ausgestatteten Schulhof. Dafür ist dann aber komischerweise selten Geld da. Stattdessen müssen Fördervereine gegründet und das Geld regelrecht eingebettelt werden, damit man sich wenigstens am Tag der offenen Tür nicht in Grund und Boden schämen muss.
Natürlich ist Lernen zunächst ein individueller Prozess. Soziales Lernen ist jedoch Training und Förderung der sozialen Kompetenz in der Gruppe. Und gerade die Aushandlung eines Kompromisses zwischen eigenen Bedürfnissen und nicht eigenen Bedürfnissen ist beispielsweise für Grundschüler ein elementar wichtiger Bestandteil ihres kindlichen Entwicklungsprozesses.
Das Erleben und Erfahren der emotionalen Selbstwirksamkeit, die Teilhabe an der Gruppe, das Einfühlen in andere Kinder (Empathie), die Stärkung der eigenen Resilienz und Frustrationstoleranz, ein ausgeprägtes Regelverständnis, die Entwicklung eines positiven Selbstkonzeptes sowie gewaltfreie Konfliktlösungsstrategien – das alles sind weitere wichtige Lernprozesse des Sozialen Lernens. Das alles lernen Kinder nicht mit oder über digitale Technologien, sondern nur in der Interaktion mit anderen Menschen.
Markus Vollack ist Politologe und Pädagoge. Seit rund zehn Jahren arbeitet er an einer Berliner Grundschule.
Das ist ein Beitrag, der im Rahmen unserer Open-Source-Initiative eingereicht wurde. Mit Open Source gibt der Berliner Verlag allen Interessierten die Möglichkeit, Texte mit inhaltlicher Relevanz und professionellen Qualitätsstandards anzubieten. Ausgewählte Beiträge werden veröffentlicht und honoriert.
Dieser Beitrag unterliegt der Creative-Commons-Lizenz (CC BY-NC-ND 4.0). Er darf für nicht kommerzielle Zwecke unter Nennung des Autors und der Berliner Zeitung und unter Ausschluss jeglicher Bearbeitung von der Allgemeinheit frei weiterverwendet werden.
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Soziales Lernen pädagogische Bedeutung 27 个结果
Markus Vollack hat mit seinem offenen Brief eine zentrale Schwäche der aktuellen Bildungsdebatte benannt: Die Digitalisierung der Schulen wird oft technologiegetrieben statt pädagogisch begründet – und das Soziale Lernen bleibt dabei auf der Strecke. Das ist kein „digitales Bashing“, sondern eine empirisch gut untermauerte Kritik.
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🧠 Fazit: Digitale und analoge Welt müssen verbunden, nicht verwechselt werden
- Digitale Medien sind Werkzeuge, keine Pädagogen. Sie können soziales Lernen unterstützen, z. B. durch kollaboratives Editieren, Peer-Feedback oder digitale Tagebücher – aber nie ersetzen.
- Soziales Lernen braucht Raum, Zeit und Beziehungen. Das kostet kein Geld, aber Konzept, Personal und Priorität.
- Kinder wünschen sich laut Umfragen saubere Toiletten, grüne Schulhöfe und Zeit zum Spielen – nicht mehr Tablets. Das sollten wir ernst nehmen.
✅ Praktische Konsequenzen für Schulen
- Soziales Lernen als eigenes „Fach“ oder übergreifendes Prinzip verankern – nicht nur bei Problemen.
- Digitale und analoge Phasen rhythmisieren: z. B. 2 Tage Projektarbeit analog (Kooperation, Streit, Lösung), 1 Tag digitale Recherche/Präsentation.
- Lehrkräfte entlasten, damit sie Beziehungsarbeit leisten können: Klassengröße reduzieren, Team-Teaching, Sozialpädagog*innen einbinden.
- Eltern einbinden: Viele „soziale Defizite“ entstehen durch fehlende Vorbilder und Überforderung der Familien.
Kurz: Digitalisierung ohne Sozialisation ist Bildung ohne Seele.
Wer digitale Kompetenz will, muss soziale Kompetenz mitdenken – nicht nachschieben.
Wer digitale Kompetenz will, muss soziale Kompetenz mitdenken – nicht nachschieben.